Pioniere der krankheitsorientierten Populationsgenetik
Arbeitsgruppe Biomaterialbanken der TMF besucht Biobanken in Island
Die AG Biomaterialbanken besuchte am 8. Juli 2013 neben den Biobanken im Universitätsklinikum in Reykjavik auch die Firma deCODE genetics.
15.07.2013.
Island ist weltweit das einzige Land, das über die Möglichkeit verfügt,
genetische Varianten mit hohem Risiko und großer Wahrscheinlichkeit von
Krankheiten der Bevölkerung für die Prävention von Erkrankungen nutzen zu
können. Mit deCODE genetics, drei universitären Biobanken sowie Biobanken von
Fachgesellschaften gibt es hier eine Forschungsinfrastruktur, die es erlaubt,
die Chancen zu nutzen, die sich aus den Besonderheiten der isländischen Population
und ihrer historischen Entwicklung ergeben. Sowohl Technologie als auch
Ergebnisse könnten dennoch auch auf die europäische Bevölkerung übertragen
werden, so die Einschätzung der isländischen Biobank-Experten beim Besuch der TMF-Arbeitsgruppe Biomaterialbanken am 8. Juli 2013 in Reykjavik.
Island hat lediglich 300.000 Einwohner, die – vermutlich
aufgrund eines so genannten „Gründereffektes“ – geno- und phänotypisch
vergleichsweise homogener sind; Familienstammbäume lassen sich bis zu den
Gründerzeiten um 900 n. Chr. zurückverfolgen. Schon seit fast 100 Jahren verfügt
Island über ein zentralisiertes Gesundheitssystem, die Bevölkerung ist gegenüber
neuen Technologien und innovativen Vorgehensweisen – auch in der medizinischen
Versorgung – recht offen. Diese Bedingungen wirken sich günstig auf die
Erforschung von Erbgutvarianten aus. Genetiker vermuten, dass der Einfluss
dieser Varianten auf die Entstehung von Volkskrankheiten hier leichter
untersucht werden kann als in den viel heterogeneren Populationen im übrigen
Europa.
Dezentrale Biobanken mit Qualitätskontrolle im Universitätsklinikum
Am Universitätsklinikum in Reykjavik werden drei Biobanken
betrieben: in der Pathologie, unter dem Dach der Laboratoriumsmedizin und in
der Mikrobiologie. Diese Biobanken werden dezentral in verschiedenen
Departments des Klinikums geführt. Dabei handele es sich in der Regel um
klassische Tiefkühlschrank-Parks ohne Barcode-Tracking und ohne eine
hochgradige Automatisierungs-Robotik für die Verarbeitung der Proben, so die
Mitglieder der Arbeitsgruppe, die an dem Besuch teilnahmen. Allein in der
pathologischen Biobank werden mehr als eine halbe Million Proben von mehr als
400.000 Individuen gelagert.
Klinikums-weit ist in den vergangenen Jahren unter der
Leitung der Biobankmanagerin Halla Hauksdóttir ein automatisches
Online-Monitoring-System zur Überwachung der Temperaturen in den Kühlschränken
etabliert worden. Dieses ist mit dem Kommunikations- und Alarmsystem der
Universität Reykjavik verbunden. Neben der schnellen Behebung von Störfällen
habe das System sich auch für die Qualitätskontrolle der Komponenten wie
Kühlschränke und Sensoren sehr bewährt, berichtete Hauksdóttir. Es stelle
derzeit das Rückrat eines Qualitäts-kontrollierten Proben- und Datenhandlings
im Klinikum dar.
Tiefe Phänotypisierung als Erfolgsfaktor
Die Icelandic Heart Association (IHA), eine unabhängige Non-Profit-Institution
mit dem Ziel, kardiovaskuläre Erkrankungen in Island zu bekämpfen, lagert Probenmaterial von mehr als 70.000
Isländern in ihrer Biobank. In der so genannten „Reykjavik-Studie“, einer groß
angelegten prospektiven epidemiologischen Studie mit über 30.000 Frauen und
Männern, die zwischen 1907 und 1935 in Island geboren wurden, hat die IHA in
den letzten 40 Jahren die Risikofaktoren bei Herzerkrankungen untersucht. In
Nachfolgestudien untersuchen die Isländer nun gemeinsam mit US-Forschern den
Einfluss der genetischen Veranlagung und von Gen-Umwelt-Interaktionen im
Hinblick auf verschiedene gesundheitliche Konditionen beim Altern.
Eine wesentliche Voraussetzung für die
wissenschaftlichen Kollaborationen und die erfolgreichen Publikationen der
IHA-Forschung ist eine hervorragende „tiefe Phänotypisierung“ der Proben bzw.
der Studienteilnehmer durch das klinische Labor der IHA. Dabei werden neben den
konventionellen Testassays zur Bestimmung von kardiovaskulären Risikofaktoren
mittlerweile zusätzliche und teilweise mit großem Aufwand durchzuführende
Methoden aufgenommen.
Die meistzitierten Wissenschaftler in der gesundheitsorientierten,
genomweiten Forschung

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Dr. Unnur Thorsteinsdóttir,
Vizepräsidentin für Forschung
bei deCODE genetics ...
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... und Páll Gestsson, Leiter
der Robotik, führten die
Teilnehmer der Exkursion
durch die Biobank.
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Das Unternehmen deCODE genetics setzt bereits seit
vielen Jahren auf Automatisierung, Barcoding und robotergestütztes
Probenhandling für seine Biobank. Da entsprechende Technologie und Software Anfang der 2000er-Jahre
noch nicht verfügbar war, wurden geeignete Systeme aus eigenen Mitteln
entwickelt oder umgebaut. Dr. Unnur Thorsteinsdóttir, Vizepräsidentin für
Forschung, und Páll Gestsson, Leiter der Robotik, zeigten den Besuchern aus
Deutschland unter anderem Roboter zur Probenein- und -ausgabe, die ursprünglich
aus der Autofertigungsindustrie stammten. Diese wurden damals für den
Tieftemperaturbereich umgerüstet und umprogrammiert. Sie erhielten
beispielsweise Schutzummantelungen, damit sie auch bei weniger als -20° Celsius
reibungslos funktionieren. Die Automaten sind nach wie vor funktionsfähig.
Heute sind bei deCODE genetics die allermodernsten Arraytechnologien, Roboter
und Sequenziermaschinen im Einsatz. Nicht nur die für die Datengenerierung
notwendigen Schritte und Kontrollen, sondern insbesondere auch alle Prozesse
der Datenbankanalyse und -auswertung sind hochgradig automatisiert.
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Dr. Kari Stefansson hat
deCODE genetics bereits
1996 gegründet. Mit seinen
Mitarbeitern gehört er welt-
weit zu den meistzitierten
Wissenschaftlern.
(© de CODE genetics)
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Dr. Kari Stefansson hatte deCODE genetics 1996
gegründet, in einer von BioTech-Euphorie geprägten Zeit. Bereits in der
damaligen Prä-Genom-Ära hatte er vorausgesehen, dass die isländische Population
für krankheitsorientierte, populationsgenetische Studien besonders geeignet
ist. Als akademische Ausgründung wurde deCODE genetics immer über
Venture-Capital finanziert und ist unlängst von der Pharmafirma AMGEN
übernommen worden. Den Betreibern ist es dennoch gelungen, weiterhin
eigenständige, akademische Forschung auf allerhöchstem Niveau zu betreiben. Das
Unternehmen erzielt bis heute keine kommerziellen Gewinne. Zusammen mit seinen
etwa 140 deCODE genetics-Mitarbeitern gilt Stefansson allerdings weltweit als
der meistzitierte Wissenschaftler auf dem Feld der gesundheitsorientierten,
genomweiten Forschung.
Mittlerweile haben die deCODE-Wissenschaftler das
Genom von 2.600 Isländern vollständig sequenziert und weitere 120.000 haben
eingewilligt sich hochgenau genotypisieren zu lassen. Mit Hilfe dieser
Informationen und dem Wissen zu genealogischen Daten hat es die deCODE-Bioinformatik
geschafft, die Genomvarianten quasi aller Isländer in ihrer Datenbank
abzubilden. Diese steht nun zur Verfügung, um hochpenetrante Genomvariationen,
die mit extrem hohem Risiko für das Ausbrechen von gefährlichen Krankheiten, z.
B. Krebs, behaftet sind, für präventive Maßnahmen im Gesundheitssystem Islands zu verwenden. Hier sei
man weiter als der Rest der Welt, und die isländische Gesellschaft müsse nun
entscheiden, auf welche Weise sie mit einer
solchen umfassenden Ressource zu Genomvarianten mit Bedeutung für die
Patientenversorgung umgehen wolle.
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Roboter zur Probenein- und Aus-
gabe. Sie stammen ursprünglich
aus der Autofertigungsindustrie
und wurden für den Tieftempera-
turbereich umgerüstet.
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Bei deCODE genetics lagern
ca. 500.000 Proben. Das Genom von 2.600 Isländern konnte bereits
vollständig sequenziert werden.
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deCODE genetics setzt bereits
seit vielen Jahren auf Automati-
sierung, Barcoding und roboter-
gestütztes Probenhandling für
seine Biobank.
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Die Mitglieder der AG Biomaterialbanken bei ihrem Besuch des Universitätsklinikums in Reykjavik v. l. n. r.:
Bjarni A. Agnarsson (Department of Pathology, University
Hospital, Reykjavik), Magnus K. Magnusson (University of Iceland, Biomedical
Center, Reykjavik), Halla Hauksdóttir (Security- and Qualitymanager of
Clinical Biobanking, University Hospital, Reykjavik), Jon J. Jonsson (Department
of Clinical Genetics, University Hospital, Reykjavik), Manuela Bergmann (Deutsches
Institut für Ernährungsforschung, Potsdam), Michael Hummel (Charité Berlin,
Institut für Pathologie), Karoline I. Gaede (Forschungszentrum Borstel, Klinische
and Experimentelle Pathologie), Michael Neumann (Universitätsklinikum Würzburg,
Interdisziplinäre Biomaterial- und Datenbank Würzburg), Helga Kristjansdottir
(Centre for Rheumatology Research , University Hospital, Reykjavik), Nadine
Mathieu (Universitätsmedizin Göttingen, Institut für Medizinische Informatik),
Anita Posevitz-Fejfár (Universitätsklinikum Münster, Klinik für Allgemeine
Neurologie), Edgar Dahl (Universitätsklinikum RWTH Aachen, Institut für
Pathologie), Alexandra Stege (Charité Berlin, Institut für Pathologie), Roman
Siddiqui (TMF), Michael Kiehntopf (Universitätsklinikum Jena, Institut für Klinische
Chemie und Laboratoriumsdiagnostik), Vilmundur Gudnason (Icelandic Heart
Association, Reykjavik), Ulrike Bauer (Kompetenznetz Angeborene Herzfehler,
Berlin), Sebastian C. Semler (TMF), Michael Krawczak
(Christian-Albrechts-Universität Kiel, Institut für Medizinische Informatik und
Statistik).
Weiterführende Links
- TMF-Arbeitsgruppe Biomaterialbanken
- deCode genetics
- Icelandic Heart Association