Bessere Technik und pragmatische Lösungen für Umgang mit Datenschutz gefordert
TMF-Workshop zu Mobile Medical Devices und Datenschutz: Nutzen und Risiken müssen im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden
Quelle: Sergey Nivens/
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12.02.2015. „Mit der
zunehmenden Integration von IT in das tägliche Leben der Menschen müssen wir
auch über die Entwicklung neuer Rechts- und Wertewelten nachdenken“, sagte
Professor Dr. Otto Rienhoff (Universitätsmedizin Göttingen) in seiner
Einführung in den TMF-Workshop zum Thema „Mobile Medical Devices und
Datenschutz“, der am 10. Februar 2015 in Berlin stattfand. Mobile Systeme
könnten, so die Hoffnung der Experten, den Durchbruch bringen für den
routinemäßigen Einsatz von digitalen Assistenzsystemen, die es insbesondere
alten Menschen ermöglichen würden, lange in der eigenen Wohnung zu leben. „Wir
brauchen hier ein pragmatisches Vorgehen, um nicht mit Regeln, die aus einer
anderen Welt stammen, Innovation zu verhindern“, so Rienhoff.
Während sich mobile Systeme beispielsweise in der globalen
Infektionsepidemiologie zunehmend etablieren, wird der Einsatz assistiver
Technologien in Deutschland vor dem Hintergrund des demographischen Wandels
unter der Überschrift „Ambient Assisted Living“ (AAL) auf politischer Ebene und
in der Forschung schon seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Die
flächendeckende Implementierung trifft jedoch noch auf zahlreiche Hürden, zu
denen nicht zuletzt auch ungeklärte datenschutzrechtliche Fragen gehören. Ziel
des Workshops war es deshalb, so erläuterte Moderator Sebastian C. Semler
(TMF), verschiedene Beispiele für den Einsatz mobiler Technologien in der
Medizin hinsichtlich ihres Umgangs mit den Anforderungen des Datenschutzes zu
diskutieren. Der Workshop wurde im
Rahmen des vom BMBF geförderten AApolLon-Projektes durchgeführt, in dem
Curricula zum Studiengang Gesundheitstechnologie-Management mit dem Schwerpunkt Alltagsunterstützende Assistenz-Lösungen (AAL) entwickelt werden sollen.
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Die Referenten des
TMF-Workshops „Mobile Medical Devices und Datenschutz“, v.l.n.r.: Prof. Dr.
Otto Rienhoff, Martin Reich, Prof. Dr. Elmar Erkens, Prof. Dr. Klaus Pommerening, Dr. Carola Fuchs, Dr. Urs-Vito Albrecht, Martin Rost, Prof. Dr. Christian Dierks, Sebastian C. Semler
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Therapie-Adhärenz: Automatische Aufzeichnung zuverlässiger als
Eigenberichte
So können Telemonitoring-Funktionen beispielsweise genutzt
werden, um die Therapieadhärenz von Patienten genauer zu bewerten als dies
durch Selbstreporte möglich wäre, dies berichtete Dr. Carola Fuchs (PARI GmbH).
Das Verfahren ist in klinischen Studien eingesetzt worden, die die Wirksamkeit
des Einsatzes von Verneblern für die Inhalationstherapie bei
Mukoviszidose-Patienten untersucht haben. „Die automatische Aufzeichnung ist
viel zuverlässiger als der Eigenbericht oder der Nachweis über zurückgebrachte
leere Medikamenten-Fläschchen“, so Fuchs. Der Vorteil für die Studienergebnisse
sei, dass die Daten der Patienten nach Therapieadhärenz stratifiziert ausgewertet
werden könnten, was genauere Aussagen über das Wirkschema erlaube.
Darüber hinaus könnten weitere, auch diagnostische
Funktionen in die Geräte eingebaut werden, die mit direktem Feedback auch für
den Patienten sehr nützlich wären. Der weitaus größte Teil der Arbeit bei der
Entwicklung entsprechender Lösungen bestehe allerdings in der rechtlichen
Prüfung und Aushandlung der Möglichkeiten und Grenzen. Hinsichtlich der
Erstattung gerade von teuren Medikamenten stelle sich beispielsweise die Frage,
ob diese an die Compliance der Patienten geknüpft werden sollte. Dieser Gedanke
erzeuge zwar einerseits Unbehagen – Stichwort „Big Brother“ –, andererseits
aber könnte man auch argumentieren, dass ein solches Vorgehen angesichts
knapper Ressourcen gesellschaftlich fair wäre.
AAL-Systeme haben einen Ausschalter
Selbstbestimmung und Datensparsamkeit sind die Maximen für
die ambulanten alltagsunterstützenden Assistenzsysteme, die Martin Reich
(Locate Solution GmbH) vorstellte: Die Systeme sind in der Wohnung mit einem
Ein- und Ausschalter versehen, so dass die so gesicherte Person jederzeit
selbst entscheiden kann, ob Alarme gesendet werden oder nicht. „Wer sterben
möchte, darf sterben“, so Reich. Bei der von seiner Firma entwickelten Lösung
verlassen lediglich Alarme das Haus. Bei allen anderen Daten, die das System
potentiell aufzeichnen kann, entscheidet der Nutzer selbst, ob er sie auf einen
Stick speichern und ggf. seinem behandelnden Arzt zugänglich machen möchte oder
nicht. Diese Lösungen seien in langem und konstruktivem Ringen mit dem
zuständigen Datenschützer entstanden. Der Aufwand dafür sei sehr groß gewesen,
er zahle sich aber heute – auch im Wettbewerb mit anderen Firmen – aus.
Wesentlichster Aspekt der Lösung und eine zentrale ethische
Frage sei für ihn jedoch, dass die Alarme zwar zunächst an einen definierten
Kreis von Angehörigen gingen, dass aber für den Fall, dass sich aus
technischen, organisatorischen oder anderen Gründen niemand kümmern könnte, ein
professionelles System dahinter geschaltet sei, das an 24 Stunden pro Tag und
sieben Tagen pro Woche alle erforderlichen Maßnahmen einleiten könne.
AAL-Systeme in Wohnungen: Kosten und Nutzen der Investition sind verteilt
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Prof. Dr.
Elmar Erkens zu AAL-Anwendungen in der Wohnungswirtschaft: „Das
Sicherheitsgefühl des Nutzers ist relevant.“ |
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Prof. Dr. Elmar Erkens
(APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft) stellte dar, dass in den
Pflegeheimen derzeit sehr viele Personen mit Pflegestufe 1 untergebracht seien,
die eigentlich noch in ihren eigenen Wohnungen leben könnten, wenn die
entsprechenden Sicherheitssysteme verfügbar seien. Das Problem sei jedoch, dass
die Kosten und der Nutzen der Investition bei verschiedenen Beteiligten lägen:
Der Investor der Wohnungswirtschaft müsste das Risiko auf sich nehmen, die
Systeme in Immobilien zu installieren und müsste dafür Mieter finden, die
bereit seien, eine entsprechend höhere Miete zu zahlen. Darüber hinaus gebe es
bisher noch keine Anbieter, die AAL-Lösungen „aus einer Hand“ anböten, so dass
der Prozess für die Immobilienbesitzer, insbesondere die privaten Vermieter,
viel zu aufwändig sei.
Ethische Grundsätze der Biomedizin
können die Entwicklung von Gesundheits-Apps leiten
Auf die von Beauchamp und Childress 1977 formulierten vier
ethischen Grundsätze der Biomedizin – Autonomie, Nicht-Schaden, Nutzen sowie
Gleichheit und Gerechtigkeit – wies Dr. Urs-Vito Albrecht hin, der an der
Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) das MedAppLab leitet und auch Geschäftsführer
der Ethik-Kommission an der MHH ist. Es sei zu fragen, ob diese Prinzipien bei
mHealth-Anwendungen immer erfüllt seien. Die Grundsätze könne man benutzen, um
Gesundheits-Apps zu entwickeln – oder auch, um sie zu bewerten.
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In seinem Vortrag wies Dr. Urs-Vito Albrecht
auf Risiken in der Nutzung von Apps als
mobilen
Gesundheits-Anwendungen hin.
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Die Risiken, die von
Apps ausgingen, könne man grob klassifizieren in solche, die entstehen, weil
eine App nicht das tut, was sie tun soll, und in solche, die daraus
resultieren, dass die App mehr tut als sie tun soll. Die erste Klasse an
Risiken – beispielsweise wenn eine App zur Hautkrebserkennung zu viele falsch
negative Ergebnisse produziert und Patienten deshalb einen möglicherweise
lebensrettenden Arztbesuch nicht vornehmen – sei den Benutzern eher noch
bewusst als die zweite, bei der es um die Übertragung von Daten gehe, die vom
Nutzer nicht mehr kontrolliert werden könnten. Die sich hieraus ergebenden
Herausforderungen könnten nur interdisziplinär gelöst werden.
mHealth bringt neue Fragen für das Recht und noch mehr Herausforderungen
für den Nutzer mit sich
Für die rechtliche Bewertung einer Gesundheits-App müsse
zunächst die Frage geklärt werden, ob es sich hierbei um ein Medizinprodukt
handelt. Hier lieferte die MEDDEV Guidance der Europäischen Kommission hilfreiche
Hinweise. Das berichtete der Medizinrechtler Prof. Dr. Christian Dierks (Dierks
+ Bohle Rechtsanwälte). Für die Erstattungsfähigkeit des Einsatzes einer App im
Behandlungsprozess müssten die Rechte der GKV geprüft werden. Hier gelte
beispielsweise für ambulante Leistungen § 68 SGB V, der besagt, dass
Krankenkassen ihren Versicherten zur Verbesserung von Qualität und
Wirtschaftlichkeit der Versorgung finanzielle Unterstützung für
Dienstleistungen der elektronischen Speicherung und Übermittlung patientenbezogener
Gesundheitsdaten gewähren dürften.
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Prof. Dr. Christian Dierks zu den gesundheits-rechtlichen Grundlagen von mHealth und AAL |
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Ein wesentliches Thema bei allen telemedizinischen
Leistungen seien Haftungsfragen, die entweder den Hersteller betreffen können –
beispielsweise bei Fehlern bei der Datenerhebung, die auf Konstruktions-, Fabrikations-
oder Instruktionsfehlern beruhen – oder aber den Arzt, zum Beispiel wenn er
seiner Pflicht zur Überprüfung der Funktionstauglichkeit und Wartung des Geräts
oder seiner Pflicht zur Überprüfung der Richtigkeit und Stimmigkeit der
übermittelten Daten nicht nachgekommen ist.
Grundsätzlich bringe mHealth, so Dierks, zwar neue
Fragestellungen für das Recht mit sich, hauptsächlich jedoch sehe er hohe
Herausforderungen für den Nutzer. Überdies schaffe die Globalisierung Fakten,
die jenseits unserer Rechtsordnung lägen.
Beim Datenschutz geht es um die strukturellen Machtasymmetrien zwischen
Organisationen und Individuen
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Martin Rost forderte technische Eigenentwicklungen in
Deutschland und Europa, um dem hohen Schutz-bedarf gerecht zu werden.
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Datenschützer Martin Rost (Unabhängiges Landeszentrum für
Datenschutz Schleswig-Holstein) erinnerte an die Grundfunktion des Datenschutzes:
Im Kern gehe es um den Schutz des Individuums in den strukturellen
Machtasymmetrien zwischen Organisationen und Individuen. Dies dürfe nicht, wie
es oft geschehe, mit Problemen der IT-Sicherheit verwechselt werden.
Martin Rost forderte technische Eigenentwicklungen in
Deutschland und Europa, um dem hohen Schutzbedarf gerecht zu werden.
Er beklagte eine zunehmende Amerikanisierung beim Umgang mit
Daten, die insbesondere über Regelungen der EU auch nach Deutschland kämen.
Dabei entstehe ein neuer Feudalismus. Da die mobile Technologie nicht mehr
wegzudenken sei, müsse man bessere Technik bauen: Deutschland sollte seine
industrielle Stärke nutzen, um mobile Geräte zu bauen, die auch langfristig
datenschutzkonform sind. Kurzfristig werde dies einen wirtschaftlichen Nachteil
im globalen Wettbewerb bedeuten, langfristig werde sich dies jedoch zu einem
Vorteil entwickeln.
Prinzipien aus den TMF-Datenschutzkonzepten sind übertragbar
Die zunehmende Dominanz eines anglo-amerikanischen
Rechtsverständnisses im Umgang mit Daten stellte auch Prof. Dr. Klaus
Pommerening (Universität Mainz) fest, Hauptautor des kürzlich publizierten
Datenschutzleitfadens der TMF. Bei den Nutzern sei das Problembewusstsein wenig
ausgeprägt. Im Umfeld von mHealth und AAL sei die Trennung von medizinischen
und nicht-medizinischen Daten und Prozessen für die datenschutzrechtliche
Bewertung sehr schwierig.
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Prof. Dr. Klaus Pomme-rening zeigte auf, dass
mHealth-Anwendungen zusätzliche Datenschutz-Probleme
aufwerfen.
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Grundsätzlich
sei das Datenschutzkonzept der TMF auf Anforderungen im Bereich von digitalen
Assistenzsystemen anwendbar, allerdings erfordere die Datenerfassung
zusätzliche Maßnahmen, erklärte Pommerening. Die Anwendbarkeit auf
mHealth-Projekte sehe er als begrenzt an, jedoch seien viele Überlegungen und
Prinzipien durchaus übertragbar. Wichtig für die Bewertung von Anwendungen sei
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Zwischen dem potenziellen Nutzen und
möglichen Risiken für den Nutzer bzw. Patienten müsse im Einzelfall sehr
sorgfältig abgewogen werden.
Eine Abwägung zwischen Freiheit und Schutz
Gesetzliche Regelungen, die die Weitergabe von Daten
verbieten, forderte Prof. Dr. Gert G. Wagner (DIW Berlin) in der abschließenden
Podiumsdiskussion. Medizinrechtler Dierks knüpfte an die Ausführungen von
Datenschützer Martin Rost an und fragte: „Opfern wir uns auf dem Altar
re-feudalisierter Globalisierung?“, um sogleich die Frage hinterherzuschicken,
ob „wir den Bürgern unliberale Vorgaben zu ihrem eigenen Schutz machen“
dürften. Otto Rienhoff mahnte abschließend noch einmal ein
pragmatisches Vorgehen an, dessen Ansätze er nicht zuletzt in den
TMF-Datenschutzkonzepten sehe.
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In der Podiumsdiskussion wurde
deutlich, dass im Umgang mit Gesundheits-Apps als alltagsunterstützenden
Assistenzanwendungen zwischen Nutzen und Risiko abgewogen werden muss.
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Vortragsfolien und Programm zum Download:
- Download des Programmflyers [pdf | 690 KB]
- Prof. Dr. Otto Rienhoff (Universitätsmedizin Göttingen)
Einführung in den Workshop
- Dr. Carola Fuchs (PARI GmbH)
Telemonitoring von Adhärenz in klinischen Studien
- Martin Reich (Locate Solution GmbH)
Ambulante alltagsunterstützende Assistenzlösungen
- Prof. Dr. Elmar Erkens (APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft)
AAL-Anwendungen in der Wohnungswirtschaft
- Dr. Urs-Vito Albrecht (Universität Braunschweig und Medizinische Hochschule Hannover)
Entwicklungstrends in mHealth und AAL
- Prof. Dr. Christian Dierks
mHealth und AAL - gesundheitsrechtliche Grundlagen
- Martin Rost (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein)
mHealth, AAL und Datenschutz
- Prof. Dr. Klaus Pommerening
mHealth und der TMF-Datenschutzleitfaden
BMBF-Broschüre Aus- und
Weiterbildung AAL
- Aus- und Weiterbildung im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme [pdf | 2 MB]