Staatliche Steuerung oder Selbstregulierung: eHealth-Entwicklung von Geschichte und Kultur der Länder in Europa geprägt
TELEMED 2016 mit Fokus auf Europa und das Land Niedersachsen
06.07.2016.
Länder in Europa unterscheiden sich in vielfältiger Hinsicht, nicht zuletzt
darin, ob im Bereich von medizinischer Forschung und eHealth stärker auf
Steuerung durch den Gesetzgeber oder auf Selbstregulierung gesetzt wird. In
allen Fällen ist der Erfolg beim Aufbau von Telematikinfrastrukturen davon abhängig,
dass es gelingt, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Ein Erfolgsfaktor
ist außerdem, wenn die jeweilige Regierung eine klare Führungsrolle im Prozess
übernimmt. Diese zentralen Erkenntnisse zogen sich durch die Vorträge des
ersten Veranstaltungstags der TELEMED 2016, die am 4. und 5. Juli 2016 in
Berlin stattfand.
 |
|
Maritta Korhonen
(Social and Health
Ministry, Finland)
|
|
Finnland hat zum
Beispiel 2007 eine nationale eHealth-Strategie verabschiedet und seither das
„National Archive of Health Information“ aufgebaut. Die so genannten „Kanta
Services“ wenden sich an Versorgungseinrichtungen und Apotheken ebenso wie an
Bürger, die unter „My Kanta“ ihre eigenen medizinischen Unterlagen und alle
Details zu den über sie gespeicherten Daten einsehen können. Das Angebot wird
sehr gut angenommen: „Die My Kanta-Seiten sind die am dritthäufigsten
aufgerufenen finnischen Webseiten – gleich nach der Wettervorhersage“,
berichtete Maritta Korhonen vom finnischen Sozial- und Gesundheitsministerium.
 |
|
Irene Schlünder
(TMF e. V., Berlin)
|
|
Auch bei der Nutzung
von Versorgungsdaten für Forschungszwecke ist Finnland Vorreiter. „Eine starke
staatliche Aufsicht ermöglicht es, Versorgungsdaten hier auch ohne Einwilligung
zu Forschungszwecken weiterzugeben“, erklärte Irene Schlünder (TMF), die einen
Vergleich der gesetzlichen Regelungen für Humanforschung in vier europäischen
Ländern (Deutschland, Schweiz, Finnland, Estland) vorstellte. Deutschland setze
dagegen stärker und erfolgreich auf das Prinzip der Selbstregulierung.
Beispiele seien die Mustertexte des Arbeitskreises Medizinischer
Ethik-Kommissionen zu Biobanken oder die in der TMF über viele Jahre von den
Forschern gemeinsam entwickelten Datenschutzkonzepte für die medizinische
Forschung.
Datenaustausch ist öffentliches Interesse
|
 |
|
Dr. Clemens Auer
(Generaldirektor des
Bundesministeriums
für Gesundheit,
Österreich) |
Auch in Österreich hat
das Gesundheitsministerium eine Führungsrolle bei der Etablierung der
elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) übernommen, wie Clemens Auer vom
österreichischen Bundesministerium für Gesundheit darlegte. Der Datenaustausch
zwischen den Leistungserbringern sei juristisch als im öffentlichen Interesse
liegend bewertet worden und auf dieser Basis ohne weitere Einwilligung möglich.
Jegliche Form von „Secondary use“, also auch die Nutzung der Daten zu
Forschungszwecken, sei allerdings grundsätzlich ausgeschlossen worden, um bei
den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen in das System zu erzeugen.
Auer ist auch Ko-Vorsitzender des europäischen
eHealth-Netzwerks, das die Zusammenarbeit auf verwaltungspolitischer Ebene
koordiniert und sich insbesondere um Fragen der Interoperabilität und
Standardisierung für den grenzüberschreitenden Datenaustausch kümmert. Das
Netzwerk entwickelt Leitlinien, die den Mitgliedstaaten beim Aufbau ihrer
eHealth-Infrastrukturen Orientierung geben sollen. „Auf der europäischen Ebene
passiert Konkretes, aber die Hausaufgaben auf nationaler Ebene müssen ebenfalls
gemacht werden, denn das Ganze hilft nichts, wenn keine Daten da sind, die
ausgetauscht werden können“, so Auer.
Ein
Diskussionsbeendigungsgesetz
  |
|
Podiumsdiskussion "Wege zum vernetz-
ten digitalen Gesundheitswesen: Länder,
Bund, Europa": linkes Bild (v.l.n.r.): Dr.
Christoph Seidel (BVMI e. V.), Alexander
Beyer (gematik), Michael Franz (Compu-
Group), Norbert Paland (BMG), Dr.
Clemens Auer (BMG, Österreich),
Cornelia Rundt (Niedersächs. Ministerin
für Soziales, Gesundheit und Gleichstel-
lung), Dr. Stephan H. Schug (DGG e. V.),
Prof. Dr. Paul Schmücker (Hochschule
Mannheim); rechtes Bild: Norbert Paland
(BMG)
|
|
Als „Diskussionsbeendigungsgesetz“ bezeichnete Norbert Paland (Bundesministerium
für Gesundheit) das eHealth-Gesetz der Bundesregierung, das im Januar 2016 in
Kraft getreten ist. Mit dieser Maßnahme habe die Regierung die Führung in einem
Prozess übernommen, der in Deutschland traditionell in den Händen der
Selbstverwaltung liege. „Man muss in einer Gesellschaft alle mitnehmen, aber
auch wissen, wann man Diskussionen beenden muss“, so Paland. Man müsse die
unterschiedlichen historischen, kulturellen und politischen Bedingungen in den
verschiedenen Ländern Europas, die zu sehr unterschiedlichen Vorgehensweisen
beim Aufbau der eHealth-Infrastrukturen führen, respektieren.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hatte die
Schirmherrschaft für die 21. TELEMED übernommen. „Telemedizin birgt ganz handfeste
Möglichkeiten, die medizinische Versorgung weiter zu verbessern. Wir wollen
deshalb, dass die Vorteile der Telemedizin möglichst schnell bei den
Patientinnen und Patienten ankommen. Mit dem E-Health-Gesetz machen wir Tempo.
Ärzte, Kassen und Industrie stehen jetzt gleichermaßen in der Pflicht, die
gesetzlichen Vorgaben im Sinne der Patienten zügig umzusetzen“, hatte Gröhe im
Vorfeld der Veranstaltung mitgeteilt.
Staatliche Steuerung beim Aufbau der Telematikinfrastruktur nötig
|
  |
|
linkes Bild: Ute Hönemann (Niedersäch-
sisches Ministerium für Wirtschaft, Ar-
beit und Verkehr); rechtes Bild: Cornelia
Rundt (Niedersächs. Ministerin für Sozi-
ales, Gesundheit und Gleichstellung)
|
Die Tagung fand in
Kooperation mit dem Land Niedersachsen statt, das das Thema eHealth auf
vielfältige Weise vorantreibt. In ihrem Grußwort wies Ute Hönemann vom
niedersächsischen Wirtschaftsministerium darauf hin, dass der Gesundheitssektor
nicht nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktioniert, so dass der Staat
beim Aufbau der Telematikinfrastruktur eingreifen sollte. Die niedersächsische
Gesundheitsministerin Cornelia Rundt betonte, dass das eHealth-System sicher
sein müsse und das Vertrauen der Bevölkerung brauche.
  |
|
linkes Bild: Empfang zur Abendveranstaltung
der TELEMED 2016; rechtes Bild: Olaf Lies
(Niedersächsischer Minister für Wirtschaft,
Arbeit und Verkehr) |
|
„E-Health ist nicht
nur ein gesundheits- und sozialpolitisches Thema, sondern auch ein
wirtschaftspolitisches“, hielt der niedersächsische Minister für Wirtschaft,
Arbeit und Verkehr, Olaf Lies in seinem Grußwort zur Abendveranstaltung der
TELEMED fest. Sein Ministerium hat die Initiative eHealth.Niedersachsen
gegründet, um insbesondere den Mittelstand beim Einsatz von IT in der Medizin
zu unterstützen. „Nicht jeder Mediziner ist IT-Spezialist und andersherum.
Politik ist aber dafür da, Bereiche miteinander zu verbinden, die bisher nicht
miteinander kommunizierten.“, so Lies.
Förderprogramm Medizininformatik bietet große Chancen
|
 |
|
Prof. Dr. Paul
Schmücker (Hoch-
schule Mannheim)
|
|
 |
|
Sebastian C.
Semler (TMF e. V.) |
Dass die Wissenschaft
in die Entwicklung der Telematikinfrastruktur in Deutschland zu wenig
einbezogen wird, beklagte Paul Schmücker, Professor an der Hochschule Mannheim.
Nun böte allerdings das Förderprogramm Medizininformatik des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung eine große Chance, denn hier sollen
Datenintegrationszentren aufgebaut werden, die Forschung und Versorgung
verknüpfen.
„Die
Medizininformatik-Initiative des BMBF wird neue Impulse setzen für
Standardisierung und
Interoperabilität.“ Das erwartet Sebastian C. Semler
(TMF), der auch berichtete, dass das Begleitprojekt, das von der TMF gemeinsam
mit dem Medizinischen Fakultätentag und dem Verband der Universitätsklinika
Deutschlands durchgeführt wird, am 1. Juli 2016 gestartet ist.
Digitale Kompetenz nötig, Patient Empowerment möglich
 |
|
Prof. Dr. Roland
Trill (Hochschule
Flensburg)
|
|
 |
|
Dr. Oliver Heinze (Universitätsklini-
kum Heidelberg)
|
|
Den Patienten sollte
im deutschen Gesundheitswesen ein stärkeres Gewicht zugestanden werden. Dies
forderte Roalnd Trill, Professor an der Fachhochschule Flensburg. So ließe sich
die durch den demografischen Wandel massiv steigende Nachfrage nach
Gesundheitsleistungen steuern: „Die Bürger sollten eine Gesundheitskompetenz
entwickeln, bevor sie krank werden. Dazu gehört auch eine digitale
Kompetenz.“
Viel Wert auf Patient
Empowerment und Mitspracherecht der Patienten legt auch das Projekt INFOPAT mit
der Entwicklung einer persönlichen Patientenakte (PEPA) für die Metropolregion
Rhein-Neckar. Soeben sei das Patientenportal für die PEPA live gegangen und die
Rekrutierung von Patienten habe begonnen, berichtete Oliver Heinze. Er sieht
die PEPA als Gesundheitsdrehscheibe, auf der auch – unter Kontrolle und
Steuerung durch den Patienten – Forschung aufbauen kann.
Interoperabilität als wirtschaftlicher Impulsgeber
|
  |
|
Podiumsdiskussion "E-Health und In-
teroperabilität als Impulsgeber für die
Gesundheitswirtschaft": linkes Bild
(v.l.n.r.): Dr. Wiebke Zielinski (Länder-
AG "Digitalisierung d. Gesundheits-
wirtschaft"), Dr. Nils Hellrung (symeda),
Prof. Dr. Roland Trill (Hochschule
Flensburg), Mark Neumann (ID Berlin),
Nino Mangiapane (BMG); rechtes Bild:
Dr. Nils Hellrung (symeda)
|
„Digitalisierung
findet jetzt statt.“, mahnte Dr. Nils Hellrung (symeda GmbH), der als
Unternehmer Lösungen für eine patientenorientierte und sektorenübergreifende
Vernetzung im Gesundheitswesen entwickelt. Die mangelnde Interoperabilität
zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten sei dabei immer noch ein
Hindernis für eine effiziente Versorgung. Er sprach sich dafür aus, wie andere
Staaten auf IHE zu setzen. „Schließlich funktioniert es so um uns herum auch“,
so Hellrung.
 |
|
Dr. Wiebke Zielinski
(Ministerium für Wirtschaft und Energie des Landes
Brandenburg)
|
|
Wie E-Health und
Interoperabilität Impulsgeber für die deutsche Gesundheitswirtschaft sein
könnten, wurde während einer Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Politik und
Wirtschaft diskutiert. So trügen umfangreiche Förderprogramme im Bereich
Medizin derzeit zu einem unglaublichen Schub auch für Pharmaindustrie und
Medizintechnik bei, wie Dr. Wiebke Zielinski (Ministerium für Wirtschaft und Energie des Landes
Brandenburg) ausführte. Nun sei es
an der Zeit sicherzustellen, dass technische Innovationen über den Pilotstatus
hinausgingen, um den Bürgern neue Lösungen nahezubringen. Zielinski wies darauf
hin, dass schnelle Klarheit zu Interoperabilität und Interoperabilitätsverzeichnissen
herbeigeführt werden müsse, um weiterzukommen.
Mehr als 100.000 Gesundheitsapps
|
 |
|
Karsten Knöppler
(KNÖPPLER)
|
|
 |
|
Prof. Dr. Dr.
Christian Dierks
(Dierks + Bohle)
|
Technologie, kulturellen
Wandel und gesundheitspolitische Entwicklungen haben die Autoren der 2016
veröffentlichten Bertelsmann-Studie zu digital Health-Anwendungen für Bürger
als wesentliche Treiber ausgemacht. Dies berichtete Studien-Koautor Karsten
Knöppler. Schätzungsweise gebe es zwischen 100.000 und 160.000
gesundheitsbezogene Apps, so genau wisse das niemand. Apps zu spezifischen
Erkrankungen seien allerdings schwer zu finden und es gebe auch nur selten
Nutzerbewertungen. Die Bertelsmann-Studie gleicht die verschiedenen Anwendungstypen
von digitalen Gesundheitsanwendungen mit den nationalen Gesundheitszielen ab
und zeigt auf, welche Relevanz diese für die Bevölkerungsgesundheit haben
können.
Die rechtliche
Klassifizierung von Apps und Wearables ist schwierig und für Leistungserbringer,
Kassen und Patienten mit unzähligen Fallstricken behaftet, wie Christian Dierks
(Kanzlei Dierks und Bohle) erläuterte. Ob eine App als Medizinprodukt angesehen
werde oder nicht, richte sich vor allem danach, ob sie für einen medizinischen
(z.B. mobiles EKG-Gerät) oder eher für einen Lifestyle-Zweck (z.B. Fitnesstracker)
vorgesehen sei.
TELEMED-Award für Beitrag zum Thema Semantik
 |
|
Prof. Dr. Peter Haas (Fachhochschule
Dortmund, 3. v.l.) wurde vom Programm-
komitee mit dem TELEMED-AWARD
2016 ausgezeichnet. |
|
Den
TELEMED-Award für den besten eingereichten Vortrag erhielt Peter Haas,
Professor an der Fachhochschule Dortmund, für seinen Beitrag „Synchronisation
von Semantik in verteilten Systemen“. Er hoffe, dass er mit seinem Vortrag dazu
beitragen konnte, das trockene Thema Semantik etwas voranzubringen, sagte Haas
bei Überreichung der Urkunde.
 |
Programmkomitee und Veranstalter der TELEMED 2016: (v.l.n.r.) Prof. Dr. Paul Schmücker (Hochschule Mannheim), Prof. Dr. Kurt Becker (Apollon Hochschule), Dr. Christoph Seidel (BVMI e. V.), Dr. Christof Geßner (gematik), Prof. Dr. Magda Rosenmöller (IESE Business School, Barcelona), Michael Engelhorn (ExperMed), Anja Brysch (TMF e. V.), Prof. Dr. Dr. Christian Dierks (Dierks + Bohle), Dr. Stephan H. Schug (DGG e. V.), Sebastian C. Semler (TMF e. V.). Es fehlen: Prof. Dr. Elske Ammenwerth (UMIT) und Dr. Maik Plischke (Innovationszentrum Niedersachsen). |
Download der Vortragsfolien
- SNOMED-CT für meldepflichtige Krankheiten
Mathias Aschhoff [PDF | 468 KB]
- Elektronische Patientenakten in Deutschland – Projektbeispiele mit standardkonformen Lösungen
Dr. Ralf Brandner [PDF | 974 KB]
- Europarechtliche Rahmenbedingungen für eHealth
Christian Dierks [PDF | 237 KB]
- eHealth - Neue Einflüsse auf das ärztliche Handeln?
Dr. Christoph F-J Goetz [PDF | 195 KB]
- E-Health auf Augenhöhe - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklunngen der PEPA in der Metropolregion Rhein-Neckar
Dr. Oliver Heinze [PDF | 5 MB]
- Nutzungsbereitschaft von Telemedizin in der Schlagfallnachsorge - Die Sicht der Behandler
Natalie Jankowski [PDF | 719 KB]
- Mobile Augenheilkunde mit Schwerpunkt Patienten in Pflegeheimen und Altersheimen
Dr. med. Siegfried Jedamzik [PDF | 1 MB]
- Stand und Erfahrungen zu eHealth und mHealth in der Schweiz
Dr. Sang-Il Kim [PDF | 2 MB]
- Digital-Health-Anwendungen für Bürger
Karsten Knöppler [PDF | 7 MB]
- How can we safely face eHealth and digitalisation - can we ensure it with legislation?
Maritta Korhonen [PDF | 389 KB]
- Umsetzungsschritte für eine flächendeckende intelligente Patientenakte
Stefan Müller-Mielitz [PDF | 1 MB]
- HELP-Studie - Case Report Patient 07
Daniel Pfirrmann [PDF | 450 KB]
- Gesetzliche Regelungen für Humanforschung in Europa – eine ausgewählte vergleichende Betrachtung
Irene Schlünder [PDF | 556 KB]
- Cross-border ePrescriptions in the EU – Towards a European approach to univocally identify medicinal products
Prof. Dr. Karl A. Stroetmann [PDF | 588 KB]
- Vergleichende Analyse von eHealth-Applikationen im Ostseeraum – Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland
Prof. Dr. Roland Trill [PDF | 750 KB]
- Medikationsplan Plus - ein Projekt im Rahmen des Leitmarktwettbewerbs Gesundheit.NRW
Lasse van de Sand [PDF | 550 KB]
- Vernetzte Versorgung durch Versorgungs-forschung? Perspektiven und Anforderungen
Dr. Dominik von Stillfried [PDF | 3 MB]