Wert der Datenerhebung steigt, Medizininformatik gewinnt Sichtbarkeit
Internationaler Workshop von TMF und GMDS zum Thema Datenintegration und Datenaustausch bringt mehr als 100 Forscher zusammen
14.07.2016. „Fangt
klein an und haltet es einfach“; „Überbrückt die Trennung zwischen IT und
Forschung“ oder „Versprecht nicht mehr als die Daten leisten können“. Dies
waren Erkenntnisse, die Prof. Jeffrey S. Brown von der Harvard Medical School
in Boston/USA als erster von fünf internationalen Referenten den Teilnehmern
eines Workshops zum Thema Datenintegration und Datenaustausch am 12. und 13.
Juli 2016 in Berlin weitergab. Zu dem Workshop hatten die TMF und die GMDS
gemeinsam eingeladen, um in Vorbereitung auf die in Kürze anlaufende
Medizininformatik-Initiative des BMBF die Möglichkeit zu bieten, von den
Erfahrungen aus dem Ausland zu lernen.
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Prof. Jeffrey S. Brown |
„Wenn du deine Arbeit in einem einzigen umfassenden System
erledigen kannst, dann tue es“, das sei die Regel, die den Aufbau von
Datennetzwerken leite, so Brown weiter. Solche übergreifenden Datennetzwerke
könnten zur Verbesserung der Patientenversorgung, für Überwachung im Bereich
des öffentlichen Gesundheitsdienstes oder für Forschungszwecke ebenso genutzt
werden wie für die Patientenrekrutierung.
Brown bezog sich in seinem Vortrag auf seine Erfahrungen
beim Aufbau der Infastrukturen für das Sentinel-Projekt der FDA und des National Patient-CenteredClinical Research Network (PCORnet). Beide
Netzwerke ermöglichen Analysen von Daten großer Patientenkollektive aus einer
Reihe von Institutionen in den USA. Die im PCORnet verfügbar gemachten Daten
könnten für Vorstudien, z.B. Feasibility-Prüfungen, ebenso genutzt werden wie
für Beobachtungs- und für Interventionsstudien. Wichtig sei, dass ihnen ein
gemeinsames Datenmodell zugrunde liege. Außerdem habe es sich bewährt, die
Daten selbst in den Einrichtungen zu belassen und die Analysen dort durchführen
zu lassen.
Evidenz aus dem Versorgungsgeschehen gewinnen
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Prof. Shawn Murphy |
Prof. Shawn Murphy, ebenfalls an der Harvard Medical School
unter anderem an den Arbeiten des PCORnet beteiligt und mit der TMF-Community
in Deutschland auch über die Arbeiten zu i2b2 bereits seit Jahren im Austausch,
wies darauf hin, dass solche Datennetzwerke helfen, Evidenz über die Sicherheit
und Wirksamkeit von Interventionen verstärkt auch aus dem Versorgungsgeschehen
zu gewinnen.
Das Patient Centered Outcomes Research Institute (PCORI),
das das PCORnet aufbaut und betreibt, sei ein nationales Netzwerk aus
Netzwerken – klinischen Forschungsdaten-Netzwerken und patientengetriebenen
Forschungsnetzwerken. Die zentralen Herausforderungen seien auch hier die
Governance der unterschiedlichen Datenarten, die Nachhaltigkeit der
Infrastruktur, die Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit sowie das
Patient Engagement. PCORnet basiere auf einem Ontologie-getriebenen Datenmodell.
„Datensätze sind zu Beginn immer chaotisch“
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Prof. Goerge Hripcsak |
„Es wird künftig keine klinischen Studien geben, die nicht
eine Beobachtungsstudie als Vorläufer haben“, erläuterte Prof. George Hripcsak
von der Columbia University in New York/USA. Er berichtete über das
Observational Health Data Sciences and Informatics (OHDSI)-Programm, in dessen
Rahmen ein internationales Netzwerk aus Forschern und Gesundheitsdatenbanken
aufgebaut wurde. Potentiell bestünde damit die Möglichkeit, die Daten aus
Verlaufsbeobachtungen von insgesamt einer Million Patienten zu analysieren. Der
Ablauf sei so organisiert, dass ein beteiligter Standort eine Forschungsfrage
entwickelt und an den eigenen Daten testet, sie dann im Netzwerk
veröffentlicht, so dass die anderen Netzwerkpartner die Möglichkeit haben, die
Analyse auf ihren Daten auf freiwilliger Basis durchzuführen und die Ergebnisse
an den anfragenden Standort zurückzuspielen.
Die Daten müssen allerdings zuvor entsprechend vorbereitet
sein. „Datensätze sind zu Beginn immer chaotisch“, betonte Hripcsak. Um sie in
ein standardisiertes Modell zu überführen, benötige man jemanden, der mit dem
Datensatz vertraut sei, jemanden mit medizinischem Wissen sowie jemanden, der
SQL schreiben kann. Darüber hinaus biete OHDSI eine Reihe von Tools und vor
allem auch intensive Unterstützung durch die Mitarbeiter.
Kontrollierter Zugang auf Basis der Einwilligungserklärung
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Laura Clarke |
Für die Aggregierung und Integration müssen die Daten gut
beschrieben sein. Die Bereitstellung von Daten für eine Nutzung durch andere
Forscher geht noch einen Schritt weiter, wie Laura Clarke vom European
Nucleotide Archive in Hinxton/UK darstellte. Im Bereich der Omics-Forschung
bestehen eine Reihe von Archiven, die Daten entweder öffentlich oder – wenn es
sich um potentiell identifizierbare Daten von Menschen handelt – in einem
kontrollierten Verfahren für Analysen zugänglich machen. Der Zugang zu den
Daten bestimmt sich dann aus der Einwilligungserklärung. Ein
Beispiel sei das European Genome-Phenome Archive, dessen Aufgabe es sei, die
kontrollierte Nutzung von genetischen und phänotypischen Daten, für die
entsprechende Einwilligungserklärungen vorlägen, zu organisieren.
Rechtliche Einschränkungen nicht das größte Problem
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Prof. Anthony J. Brookes |
„Es gibt drei Gründe, weshalb Forscher Datenaustausch
ablehnen: Sie dürfen nicht (aus rechtlichen Gründen), sie können nicht (weil
die Daten nicht einfach weitergabefähig vorliegen) oder sie wollen nicht“. Das
sagte Prof. Anthony J. Brookes von der University of Leicester/UK. Dass
rechtliche Einschränkungen nicht das größte Problem dabei sind, haben Brookes
und Kollegen nachweisen können. Vielmehr bestehe eine große Diskrepanz zwischen
der Anforderung, wissenschaftliche Entwicklungen wie Methoden, Agenzien,
Technologien etc. zu kommerzialisieren, während erwartet würde, dass Daten frei
verfügbar gemacht würden.
Besitz und Kontrolle von Daten müssten getrennt werden, das
sei die Erkenntnis aus vielen Jahren Beschäftigung mit dem Thema, so Brookes.
Einer von mehreren Lösungsvorschlägen, die Brookes zur Diskussion stellte,
lautete unter dem Schlagwort „Discovery“, dass – beispielsweise über die
Bereitstellung von Metadaten – eher die Existenz als die Substanz der Daten
(oder anderer Informationen) geteilt werden sollte. Das Vorgehen für eine
konkrete Nutzung und Analyse der Daten könne dann bilateral ausgehandelt werden.
In der nachfolgenden Diskussion wurde deutlich, dass sich
derzeit die Wahrnehmung der Werte in der Forschung verschiebt: Es ist heute
klar, dass Forschungserfolge nicht mehr auf einer Einzelleistung beruhen,
sondern dass viele Personen und Gruppen dazu beitragen und dass diese Beiträge
gleichermaßen wertvoll sind – darunter auch die Datenerhebung bzw. –sammlung.
Aufbau von Infrastrukturen zum Datenaustausch nun auch in Deutschland
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Sebastian C. Semler |
Mit der Medizininformatik-Förderinitiative, die das
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im November 2015 angekündigt
hat, wird es in Deutschland nun auch die Möglichkeit geben, Infrastrukturen
aufzubauen, die den Datenaustausch und die Nutzung von Daten zwischen
Krankenversorgung und klinischer sowie biomedizinischer Forschung ermöglichen.
Schlüsselelement hierzu werden Datenintegrationszentren an den Universitäten
sein, wie Sebastian C. Semler (Geschäftsführer der TMF) erläuterte. Das
Programm startet zunächst mit einer Konzeptphase, für die sich Konsortien aus
mindestens zwei Universitätsstandorten beworben haben und die von einem
Nationalen Steuerungsgremium und einer Geschäftsstelle begleitet werden, die
von der TMF gemeinsam mit dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) und dem Verband
der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) betrieben wird.
Dazu ergänzte Dr. Frank Wissing, Generalsekretär des MFT,
dass eine wichtige Aufgabe sein werde, die Aktivitäten in die Fakultäten
einzubinden und zu vernetzen. Die Medizininformatik habe über dieses Programm
jetzt die Sichtbarkeit gewonnen, die ihr gebühre. Auch Ralf Heyder,
Generalsekretär des VUD, betonte die immense politische Bedeutung der
Initiative.
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V.l.n.r.: Sebastian C. Semler (TMF), Prof. Hans-Ulrich
Prokosch (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Prof. George Hripcsak (Dept. of Biomedical
Informatics Columbia University, New York/USA), Prof.
Jeffrey S. Brown (Dept. of Population Medicine, Harvard Medical School,
Boston/USA), Laura Clarke (European Nucleotide
Archive, EMBL-EBI, Hinxton/UK), Prof. Shawn
Murphy (Partners HealthCare; Harvard Medical School, Boston/USA), Prof. Anthony J. Brookes (Department of Genetics,
University of Leicester, UK), Prof. Ulrich Mansmann
(Ludwig-Maximilians-Universität München), Prof. Michael Krawczak
(Universitätsmedizin Schleswig-Holstein, Campus Kiel).
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- Programmflyer [PDF | 266 kB]
Vorträge des Workshops:
(Ggf. wurden Abbildungen aus urheberrechtlichen Gründen
entfernt)
- Prof. Jeffrey S. Brown (Dept. of Population Medicine, Harvard Medical School, Boston/USA): Distributed data network architecture: Lessons from PCORnet and FDA Sentinel [PDF | 3 MB]
- Prof. Shawn Murphy (Partners HealthCare; Harvard Medical School, Boston/USA): Data Integration in the SCILHS clinical data research network and its integration into the PCORNET infrastructure [PDF | 7 MB]
- Prof. George Hripcsak (Dept. of Biomedical Informatics Columbia University, New York/USA): Shared Data Sets and Analytics tools based on the OMOP Common Data Model in the OHDSI project [PDF | 4 MB]
- Laura Clarke (European Nucleotide Archive, EMBL-EBI, Hinxton/UK): Management und Custodianship of Omics Data [PDF | 1 MB]
- Prof. Anthony J. Brookes (Department of Genetics, University of Leicester, UK): Data Sharing - Progress by Improving Data ‚Control‘ [PDF | 2 MB]
- Sebastian C. Semler (TMF): Kurzvorstellung Begleitstruktur der Medizininformatik-Initiative [PDF | 246 kB]
- Dr. Johannes Drepper (TMF): Impulsvortrag Consent Management [PDF | 282 kB]
- Dr. Martin S. Haase (Dierks & Bohle Rechtsanwälte): Gesundheitsdatenschutz