Interview

„Wir untersuchen systematisch, ob Diagnosen fehlen oder nicht angemessen abgebildet sind.“

Interview mit Prof. Dr. Jürgen Stausberg zu den ICD-11-Feldtests in Deutschland

Prof. Dr. Jürgen Stausberg

Prof. Dr. Jürgen Stausberg. © TMF e.V.

Die TMF ist koordinierend an einem Projekt beteiligt, in dem mit Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaften in Deutschland Feldtests zur Prüfung der neuen Revision des internationalen Diagnoseklassifikationssystems ICD der Weltgesundheitsorganisation durchführen. Die deutsche Beteiligung an den Feldtests der WHO wird vom DIMDI koordiniert. Im Interview erläutert Prof. Dr. Jürgen Stausberg Hintergründe und Ziele des Projekts.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereitet derzeit eine neue Revision des internationalen Diagnose-klassifikationssystems ICD vor. Wie ist hier der Stand?


Aktuell ist die ICD-10 gültig, also die zehnte Revision der Klassifikation, die 1992 verabschiedet wurde. Die Nutzungsdauer ist mit 25 Jahren schon viel länger, als die WHO das ursprünglich vorgesehen hatte. 2018 will die WHO auf der Weltgesundheitsversammlung (WHA) eine neue Revision verabschieden. Das heißt, es wird eine Abstimmung unter den Mitgliedsstaaten geben. Die Erarbeitung der neuen Revision soll im Herbst 2017 abgeschlossen werden.
 

Was sind die Ziele dieser Überarbeitung?


Die wesentlichsten Aspekte sind zum einen eine Anpassung an neue Entwicklungen in der Medizin, beispielsweise an veränderte Krankheitskonzepte aufgrund neuer genetischer Erkenntnisse. Zum anderen geht es darum, mehr Flexibilität zu schaffen. Die ICD-10 ist relativ starr. In der ICD-11 wird die Grundregel „ein Code für eine Erkrankung“ nicht mehr gelten. Hier wird es möglich sein, die Dokumentation einer Erkrankung aus verschiedenen Codes zusammenzusetzen.

Die ICD-11 wird sich auch insofern von der ICD-10 unterscheiden, als unterschiedliche Fassungen für verschiedene Anwendungsbereiche herausgegeben werden sollen, zum Beispiel für die Erfassung von Todesursachen oder für Primary Care. Im Moment wird die Fassung für den Anwendungsbereich „Morbidity and Mortality Statistics“ (MMS) abgestimmt. Es geht also jetzt um die ICD-11-MMS, die im Grunde dem Anwendungsgebiet der ICD-10 entspricht. Sie ermöglicht die Erfassung von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten, beispielsweise für die Gesundheitsberichterstattung, für die Versorgungsforschung, aber auch für Zwecke der Qualitätssicherung sowie der Abrechnung oder für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
 

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) fördert jetzt Feldtests zur ICD-11 Beta-Version in Deutschland…


Die Feldtests sind ein Werkzeug, das die WHO im Entwicklungsprozess der ICD-11 selbst vorsieht. Sie bietet den Mitgliedsstaaten dazu eine Beta-Version der Klassifikation zusammen mit webbasierten Werkzeugen an. In diesen Werkzeugen kann zum Beispiel ein in Deutschland gebräuchlicher Diagnosentext in die ICD-11 kodiert werden. Die WHO kann dann die Kodiervorgänge nachvollziehen. Die Kodierer können eine Bewertung hinsichtlich der Vollständigkeit des Katalogs, hinsichtlich der Abgeschlossenheit der Erkrankungsklassen oder zu anderen Unklarheiten bei der Kodierung abgeben.

Es ist das große Verdienst von Professor Holger Reinecke, dem Vorsitzenden des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG), dass es eine koordinierte deutsche Beteiligung an diesen Feldtests gibt. Das KKG, das beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) angesiedelt ist, berät das BMG bei Fragen der Erarbeitung, Pflege und Weiterentwicklung von amtlichen Klassifikationen im Gesundheitswesen. Professor Reinecke hat dazu Diskussionen mit dem BMG geführt und das Thema vorangetrieben. So hat er Möglichkeiten eröffnet, mit denen sich wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften in den Prozess einbringen können. Die Fachgesellschaften erhalten hierfür eine Teilförderung vom BMG und erbringen einen Teil der Arbeit darüber hinaus als Eigenleistung, was ich – bei einer nationalen Aufgabe von dieser Bedeutung – absolut erwähnens- und lobenswert finde.

In Deutschland werden insgesamt elf Feldtests durchgeführt, wobei die Fachgesellschaften unterschiedliche Erkrankungsbereiche abdecken. Die Tests haben zudem unterschiedliche Schwerpunkte: manche prüfen eher die Zuverlässigkeit der Klassifikation, andere eher die Vollständigkeit. Manche fokussieren auf einzelne Erkrankungsbezeichnungen, andere prüfen die Kodierung von Fallbeschreibungen. Mindestens zwei der Feldtests finden auch im Kontext internationaler Projekte statt.

Ich kann näher über den Feldtest der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) berichten, den ich selbst mitorganisiere. Dieser Feldtest hat eine Sonderstellung, weil er nicht von einer medizinischen, sondern einer methodischen Fachgesellschaft durchgeführt wird. Für diesen Test ziehen wir das Alphabet zur ICD-10-GM heran. Das Alphabet ist eine Sammlung von etwa 80.000 in Deutschland gebräuchlichen Diagnosetexten. Möglichst viele dieser Bezeichnungen sollen in die ICD-11 kodiert werden. Damit soll systematisch untersucht werden, ob die gebräuchlichsten Diagnosen und Erkrankungsbezeichnungen vorhanden sind, ob etwas fehlt oder ob etwas nicht angemessen abgebildet ist. Das kann dann an die WHO zurückgemeldet werden.

Wir sind derzeit dabei, hierfür 40 Kodierer aus Deutschland zu rekrutieren. Dies können Ärztinnen und Ärzte im Medizincotrolling oder im Qualitätsmanagement sein, Dokumentationsfachkräfte, klinische Coder oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Einrichtungen der Selbstverwaltung. Diese werden dann eine größere Menge von jeweils 1.000 und mehr dieser Texte in die ICD-11 kodieren. Wir werden die Vorbereitungen in Kürze abschließen, so dass die Teilnehmer ab Mai drei Monate für diese Aufgabe Zeit haben. Dieser Feldtest stellt sicher, dass wir uns einmal mit der ganzen Breite des ICD-10-GM auseinandergesetzt haben.
 

Welche Änderungen der ICD-11 sind jetzt noch realistisch?


Die Struktur der ICD-11, wie sie in der Beta-Version vorliegt, ist über ein Jahrzehnt gewachsen und gereift. Ich erwarte deshalb nicht, dass aus den Feldtests tiefgreifendere Modifikationen resultieren, selbst wenn sie gut begründet wären. Es geht jetzt eher um punktuelle Änderungen, wenn Lücken oder Unklarheiten sichtbar werden.

Ein wichtiger Punkt ist sicherlich auch die Vorbereitung der Implementierung der ICD-11 in den Mitgliedsstaaten. Bei der ICD-10 gab es weltweit Abweichungen, die zum Teil sehr deutlich waren. So haben wir in Deutschland mindestens zwei unterschiedliche Versionen der ICD-10: Eine für die Todesursachenstatistik und eine für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Die WHO versucht über das Konzept der ICD-11, diese Abweichungen wieder zusammenzuführen. Insofern erwarte ich, dass der Anpassungsspielraum bei der nationalen Implementierung kleiner wird. Es wird aber einen Anpassungsprozess geben, der sich vermutlich wieder über mehrere Jahre hinziehen wird.

Wenn man bedenkt, wie wichtig die ICD-10 für das deutsche Gesundheitssystem inzwischen geworden ist, wäre es sicher gerechtfertigt, sich noch intensiver mit der neuen Version auseinanderzusetzen. Ich schätze, dass in Deutschland jährlich 50 bis 100 Milliarden Euro über die ICD-10 verteilt werden. Gemessen daran sind die Ausgaben für den Feldtest nur ein kleiner Schritt.
 

Wie ist die Zusammenarbeit der Feldtests in Deutschland organisiert?


Dabei spielt das DIMDI eine ganz wesentliche Rolle, weil hier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch am Entwicklungsprozess bei der WHO beteiligt sind und weil durch diese Begleitung eine Konvergenz der Ergebnisse und eine zielgerichtete Ergebnisrückmeldung an die WHO gewährleistet wird. Darüber hinaus gibt es zwar kein eigenes Querschnittsprojekt, um methodisch-wissenschaftliche Fragen zu klären, aber wir haben die erfreuliche Situation, dass sich die TMF zum richtigen Zeitpunkt in diesem Projekt engagiert hat und koordinierende Aufgaben übernimmt. Sie organisiert Workshops in der Start- und in der Abschlussphase und unterstützt damit eine Abstimmung der Feldtests untereinander.


Das Interview führte Antje Schütt.
 

Prof. Dr. Jürgen Stausberg ist Arzt für Medizinische Informatik und Ärztliches Qualitätsmanagement. Er ist stellvertretendes Mitglied für die AWMF im Kuratorium für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG), das beim DIMDI angesiedelt ist, und für den ICD-11 Feldtest der GMDS zuständig.