Disruptive Technologien werden das Gesundheitswesen auf den Kopf stellen

Die TELEMED 2015 fand am 23. Juni in Berlin statt. © TMF e.V.
Deutschland muss gesetzliche Regelungen anpassen und innovationsfreundlichere Versorgungsstrukturen schaffen, damit die Digitalisierung des Gesundheitswesens erfolgreich und auf internationalem Standard weiterentwickelt werden kann. „Deutschland hat kein Infrastruktur- sondern ein Innovationsproblem.“ So brachte es Dr. Jörg Haas (HW Partners AG) anlässlich des 20. Jubiläums der TELEMED am 23. Juni 2015 in Berlin auf den Punkt. Prof. Dr. Otto Rienhoff (Universitätsmedizin Göttingen) forderte, den Blick von der Technik auf die gesetzlichen Regelungen zu lenken, während Prof. Dr. Gernot Marx (Aachen) die Notwendigkeit innovativer Versorgungsstrukturen betonte und mehr Bottom up-Handeln forderte, um die Medizin gemeinsam weiterzuentwickeln.
Jörg Haas, der als Gründer und Unternehmer bis 2005 im Gesundheitswesen aktiv war und heute als Investor vor allem innovative Unternehmen unterstützt, wies auf die disruptive Kraft der heute eingesetzten Technologien hin, die die Arbeitsweise der gesamten Gesundheitsbranche auf den Kopf stellen werde. Insbesondere würden die nationalen Grenzen – und damit nationale Großprojekte – zunehmend ihre Bedeutung verlieren.
Als Vorsitzender des Rats für Informationsinfrastrukturen erlebt Otto Rienhoff, dass alle wissenschaftlichen Disziplinen gefordert sind, ihre Strukturen ganz neu zu denken. Ein „Weiter-wie-bisher nur mit IT-Technik" werde nicht funktionieren. Auch der Datenschutz müsse neu gedacht und gestaltet werden.

Dr. Jörg Haas. © TMF e.V.

Prof. Dr. Otto Rienhoff. © TMF e.V.

Prof. Dr. Gernot Marx. © TMF
Erstmals telemedizinisches Projekt in die Regelversorgung überführt
Gernot Marx ist es in Aachen gelungen, ein telemedizinisches Projekt in der Intensivmedizin in die Regelversorgung zu bringen, so dass es nun national ausgeweitet werden kann - erstmals in Deutschland. Von Beginn an habe er daran gearbeitet, dass die Kosten von den Kostenträgern übernommen werden können. Hier habe insbesondere auch die Evidenz aus einer großen Studie in den USA geholfen, die den Nutzen der telemedizinischen Intervention für die Notfallmedizin nachweisen konnte. Diese Übernahme in die Regelversorgung ist ein wichtiger Meilenstein für Deutschland. Es sei jedoch, so Marx, noch ein weiter Weg zurückzulegen.
Treiber der Telemedizin in den Anfängen kamen auch aus der Ärzteschaft
Die TELEMED hat als Fachveranstaltung die Entwicklung der „Telematik“ und Digitalisierung des Gesundheitswesens seit 20 Jahren mitbegleitet. Dabei habe es einige grobe Fehleinschätzungen gegeben, wie Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der TMF, darstellte: So sei die Tagung 2005 mit dem Untertitel versehen worden „bit for bit – Halbzeit auf dem Weg zur Telematikinfrastruktur“, denn diese hätte ja 2006 eigentlich eingeführt werden sollen. Einig waren sich PD Dr. Günter Steyer, Dr. Gottfried Dietzel und Michael Engelhorn – drei der „Telemedizin-Pioniere“ der 90er Jahre –, dass es in dieser frühen Zeit noch sehr viele Vorbehalte gab und überwiegend gar nicht die Notwendigkeit gesehen wurde, IT im Gesundheitswesen einzusetzen. Es habe einzelne Vorreiter gegeben, unter anderem sei auch aus der Ärzteschaft Druck für eine Weiterentwicklung gekommen.

Sebastian C. Semler. © TMF e.V.

PD Dr. Günter Steyer. © TMF e.V.

Dr. Gottfried T. W. Dietzel. © TMF e.V.

Michael Engelhorn. © TMF e.V.
Telematikinfrastruktur: Blick nach vorne richten
Schon in der Eröffnungsrede hatte Oliver Schenk (Bundesministerium für Gesundheit, BMG) betont, dass Deutschland die Telematikinfrastruktur und die Vernetzung der an der Gesundheitsversorgung Beteiligten brauche, um angesichts des demografischen Wandels die hohe Versorgungsqualität sichern und weiter verbessern zu können.
In einer Podiumsdiskussion am zweiten Veranstaltungstag stand das Thema nochmals im Mittelpunkt. Norbert Paland (BMG) machte deutlich, dass die sektorübergreifende Vernetzung des Gesundheitswesens eine enorme Herausforderung ist. Es gehe viel um Macht und Einfluss, und vieles davon sei sehr spezifisch für das deutsche Gesundheitssystem. Das E-Health-Gesetz solle nun die zentralen in der bisherigen Phase erreichten Schritte absichern.
Prof. Dr. Arno Elmer, scheidender Hauptgeschäftsführer der gematik, appellierte an alle Beteiligten, den Blick jetzt nach vorne zu richten und dafür zu sorgen, dass die Anwendungen, die im Feld bereits existierten, die Telematikinfrastruktur künftig nutzen können. Neben Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenkassen, der Krankenhäuser und der Industrie, deren Beiträge die großen Linien des schwierigen Prozesses deutlich zeigten, kam auch die Forschung zu Wort:
Prof. Dr. Rainer Röhrig (Universität Oldenburg) freute sich besonders darüber, dass erstmals auch die Forschung in das E-Health-Gesetz aufgenommen worden sei und damit nun auch an die Telematikinfrastruktur des Gesundheitswesens anknüpfen könne. In der Klinik wollten alle endlich eine Telematikinfrastruktur – sie biete ein hohes Maß an Sicherheit, insbesondere im Vergleich zur derzeit praktizierten „grauen Telemedizin“, bei der mangels besserer Alternativen Befunde oftmals mit dem privaten Handy abfotografiert und an den mitbehandelnden Kollegen gemailt würden.

Podiumsdiskussion zum E-Health-Gesetz und seinen Auswirkungen: obere Reihe (v.l.n.r.): Jan Neuhaus (DKG e. V.), Norbert Butz (BÄK), Norbert Paland (BMG), Rainer Höfer (GKV); untere Reihe (v.l.n.r.): Ekkehard Mittelstaedt (bvitg e. V.), Prof. Dr. Arno Elmer (gematik), Prof. Dr. Rainer Röhrig (Universität Oldenburg und Moderator Dr. Stephan Schug (DGG e. V.). © TMF e.V.

Podiumsdiskussion zum E-Health-Gesetz und seinen Auswirkungen: obere Reihe (v.l.n.r.): Jan Neuhaus (DKG e. V.), Norbert Butz (BÄK), Norbert Paland (BMG), Rainer Höfer (GKV); untere Reihe (v.l.n.r.): Ekkehard Mittelstaedt (bvitg e. V.), Prof. Dr. Arno Elmer (gematik), Prof. Dr. Rainer Röhrig (Universität Oldenburg und Moderator Dr. Stephan Schug (DGG e. V.). © TMF e.V.

Oliver Schenk (BMG). © TMF e.V.
Telemedizin im Rettungswagen und Offshore
Wie gut Telemedizin funktionieren kann, zeigten besonders eindrücklich mehrere Beispiele aus der Notfallmedizin:
Die Notaufnahmen in Deutschland verzeichnen seit einigen Jahren einen enormen Anstieg in ihren Fallzahlen – die Kabinen seien heute durchgehend belegt, und es müsse ständig triagiert werden, wie PD Dr. Markus Wehler vom Klinikum Augsburg berichtete. In der Region Augsburg seien deshalb die Rettungswagen mit Geräten ausgestattet worden, die eine Voranmeldung mit verlässlichen medizinischen Informationen zum Zustand des Patienten ermöglichen. Die übermittelten Vitalparameter seien erheblich wichtiger und zuverlässiger als vom Rettungspersonal gestellte Verdachtsdiagnosen. Dies verbessere die Entscheidungsfindung zur Triagierung und die klinischen Abläufe erheblich.
Derzeit werden große Offshore-Windanlagen in der Nordsee errichtet mit Hochrisiko-Arbeitsplätzen. Ärzte sind für einen dauerhaften Einsatz auf solchen Plattformen kaum zu finden. Gemeinsam mit zahlreichen Partnern hat das Klinikum Oldenburg deshalb einen telemedizinischen Versorgungsdienst aufgebaut. Er basiere auf Rettungssanitätern vor Ort und telemedizinischem Support, um im Notfall die Therapie in der so genannten „golden hour“ beginnen zu können, während der Notarzt mit dem Hubschrauber zum Unfallort fliege, so Dr. Rüdiger Franz (Klinikum Oldenburg). Dies dauere bei guten Wetterbedingungen ca. 40 Minuten, bei Nebel oder Sturm aber auch länger. Manchmal sei ein Hubschrauberflug gar nicht möglich. Das Projekt „WindeaCare“ zeige, dass Telemedizin Offshore funktioniere, nach bisheriger Erkenntnis medizinisch sicher und auch rechtssicher durchführbar sei. Ohnehin sei die Lösung alternativlos für die Situation. Außerhalb der 12-Meilenzone schlage das Versorgungsgebot auch das Fernbehandlungsverbot. „Wenn Telemedizin hier funktioniert, dann sollte sie auch in anderen strukturschwachen Regionen funktionieren!“, so Franz.
TELEMED-Award: Vernetzung in der gerontopsychiatrischen Versorgung
Die TELEMED 2015 endete mit der Verleihung des TELEMED-Award an Dr. Danny Ammon (TU Ilmenau und Universitätsklinikum Jena) für seinen Beitrag zum Einsatz von Standards beim Medikationsmanagement in der gerontopsychiatrischen Versorgung. Basierend auf einer qualitativen Bedarfsanalyse ist hier eine Lösung erarbeitet worden, die auf Dokumenten- und Kommunikationsstandards (IHE, HL7 CDA, HL7, KVSafeNet, eGK/Telematikinfrastruktur) aufbaut und die es allen an der Behandlung von gerontopsychiatrischen Patienten Beteiligten (Krankenhaus, Hausarzt, Facharzt, Pflegedienst/-heim, Apotheke etc.) ermöglicht, den aktuellen Medikationsplan sowie die Medikationshistorie einzusehen.

PD Dr. Markus Wehler (Klinikum Augsburg). © TMF e.V.

Dr. Rüdiger Franz (Klinikum Oldenburg). © TMF e.V.

Dr. Danny Ammon (TU Ilmenau und Universitätsklinikum Jena). © TMF e.V.
Landesvertretung NRW als Gastgeber NRW: Digitalisierung des Gesundheitswesens eines der zentralen Ziele
Mit der Wahl der Landesvertretung NRW als Veranstaltungsort hat die TELEMED 2015 einen Beitrag geleistet, um den Dialog mit den Bundesländern zu fördern. „Ich freue mich besonders, dass die diesjährige TELEMED mit ihrem Jubiläum bei uns zu Gast ist und so den gesundheitspolitischen Diskurs mit allen Ländern intensiviert: Die E-Health-Aktivitäten der Länder haben einen besonderen Platz im Programm der TELEMED erhalten. In NRW befinden sich viele Telemedizin-Anwendungen bereits in der Regelversorgung. Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eines unserer zentralen Ziele.“ Dies betonte Gerhard Sauer, Stellvertretender Leiter der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund, in seinem Grußwort zur Eröffnung der Tagung. Mathias Redders, Leiter des Referats für Gesundheitswirtschaft und Telematik im Gesundheitswesen im Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen eröffnete die Abendveranstaltung der TELEMED.

Gerhard Sauer (Ver- tretung des Landes NRW beim Bund). © TMF e.V.

Mathias Redders (MGEPA NRW). © TMF e.V.

Programmkomitee und Veranstalter der TELEMED 2015: (v.l.n.r.) PD Dr. Günter Steyer (ehealth Consulting GmbH), Sebastian C. Semler (TMF e. V.), Dr. Christoph Seidel (BVMI e. V.), Prof. Dr. Paul Schmücker (Hochschule Mannheim), Anja Brysch (TMF e. V. / BVMI e. V.), Dr. Carl Dujat (promedtheus AG), Dr. Stephan Schug (DGG e. V.) und Dr. Markus Lindlar (DGG e. V.). Es fehlen: Rainer Beckers (ZTG), Prof. Dr. Reinhold Haux (PLRI Braunschweig), Andreas Henkel (Universitätsklinikum Jena), Oliver Schenk (BMG) und Prof. Dr. Martin Staemmler (FH Stralsund). © TMF e.V.
Weiterführende Informationen
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Vortragsfolien - Session 6 | 5.02 MB |